Atmen Teil II

Die unterschätzte Lunge

Teil zwei der spannenden Geschichte rund ums Atmen, verfasst von der Journalistin und Buchautorin Jessica Braun. Nachfolgender Auszug erschien am 13. Mai 2019 im «Magazin».

Der erste Atemzug eines Neugeborenen ist der letzte des sterbenden Fötus, heisst es. Denn als Ungeborene atmen wir anders als nach der Geburt. Solange wir im Bauch der Mutter treiben, liefert uns die Nabelschnur Sauerstoff. Von diesem kommt aber nicht viel an: Experten vergleichen die Sauerstoffversorgung in der Gebärmutter deshalb mit der auf dem Gipfel des Mount Everest. Damit aber dennoch genug von dem lebenswichtigen Gas die Zellen des Ungeborenen erreicht, ist dessen Blut anders zusammengesetzt, es kann mehr Sauerstoff transportieren. Die Lunge ist bis zur Geburt überbrückt und mit Flüssigkeit gefüllt. Aber das Ungeborene trainiert sie wohl für den bevorstehenden Einsatz – durch Schluckauf. Sein Körper belohnt es dafür, indem er Serotonin freisetzt.

Schluckauf als Vorbote des Atmens

Das Ungeborene übt also nicht nur das Atmen, sondern auch das Glücklichsein. Leider gehen uns diese vom zuckenden Zwerchfell ausgelösten Glücksschübe schon bald verloren: Schluckauf macht Erwachsene nicht froh. Er nervt. Während des Geburtsvorgangs wird die stabilisierende Flüssigkeit aus der Lunge gepresst. Ein Hormonstoss, stärker als bei einem Herzinfarkt, sorgt dafür, dass diese auch das restliche Fruchtwasser abbaut. Nun ist die Lunge bereit für den ersten Atemzug – und die Millionen weiteren, die folgen.

«Einatmen birgt ein gewisses Risiko. Niemand weiss das besser als die Lunge.»

Die Lunge – die unbeachtete Schwerarbeiterin

Wenn wir auch für die meisten Botschaften der Lunge unempfindlich sind, heisst das nicht, dass sie keine sendet. Sie ist sehr kommunikativ. Kontinuierlich übermittelt sie Informationen ans Gehirn und belegt dafür zwanzig Prozent der Fasern des Vagusnervs, der Datenautobahn der inneren Organe. Was sie wahrnimmt, scheint wichtig: Veränderungen der Temperatur oder der Luftfeuchtigkeit, aber auch von der Atemluft angeschleppte Allergene und Schadstoffe. Dabei kommen bis zu fünfzig Prozent der eingeatmeten Mikroorganismen und Partikel erst gar nicht bei ihr an: die Nase fängt diese ab. Feinstaub schafft es jedoch bis in die unteren Atemwege, schlimmstenfalls bis in die Lungebläschen und von dort ins Blut. Ultrafeine Partikel konnten bereits in Leber und Herz nachgewiesen werden. Feinstaub entsteht zum Beispiel durch Verbrennungsprozesse – in Motoren oder im heimischen Kachelofen –, beim Düngen, aber auch durch Bodenerosion oder Vulkanausbrüche. Darüber, wie gefährlich er ist, streitet sich die Wissenschaft. Hohe Konzentrationen werden mit Atemwegsentzündungen, Thrombosen und sogar mit Lungenkrebs in Verbindung gebracht. Vermutlich auch mit Demenz. Einatmen birgt also ein gewisses Risiko. Niemand weiss das besser als die Lunge.

Jessica Braun ist Journalistin und Buchautorin. Sie lebt in Berlin. «Atmen: Wie die einfachste Sache der Welt unser Leben verändert» von Jessica Braun soeben bei Kein & Aber erschienen.

Lilly Sulzbacher